Neujahrsempfang SPD Seevetal am 14.01.2024
Vortrag von Dirk Jäger, Superintendent der evangelischen Kirche

"Guten Morgen zusammen und vielen Dank für die Einladung zum heutigen Neujahrsempfang, ich wünsche Ihnen allen ein frohes und gesundes neues Jahr, das vieles mit sich bringen möge, was Sie sich wünschen für diese Zeit!

Über die Frage von Andreas Rakowski, ob ich heute irgendwas zum Thema „Europa“ erzählen könnte, war ich erstmal kurz überrascht. Warum ausgerechnet ich? Als Provinz-Theologe bewege ich mich normalerweise zwischen Tostedt, Buchholz, Neu Wulmstorf und Seevetal, ab und an mal eine Dienstreise nach Hannover, also weder Brüssel noch Paris, sondern immer noch Provinz.

Im Einladungstext für heute steht: „Europa ist ein Projekt für die Bürgerinnen und Bürger“. Na, hab` ich gedacht, dann passt`s ja vielleicht doch ganz gut, denn ein EURO-Bürger bin ich ja. Mit einigen Erfahrungen aus sechs Jahrzehnten in diesem Staatenbund, dem Privileg, 23 europäische Länder auf Reisen mehr oder weniger intensiv kennengelernt zu haben, und dem kleinen Luxus, von meiner zweiten Adresse im Norden aus auch ab und zu einen nicht-deutschen Blick auf die Dinge werfen zu können.

Zuhause vom Vortragsthema berichtend, schallte mir aus Richtung der klugen Frau an meiner Seite entgegen: „Europa – da kannst du ja alles oder nichts dazu erzählen. Vom kleinen Statement bis zum 20-bändigen Werk über Geschichte, Politik, Staatstheorie und Kulturkritik.“ Sie hat oft recht und ich entscheide mich dafür, nicht alles zu erzählen – da sprächen bereits die mir von Andreas eingeräumten 20 Minuten dagegen, aber auch nicht nichts zu sagen.

Das Erste, worauf ich verzichte, ist das, was alle pflichtschuldigst sagen würden zum Thema Europa, worin wir uns hier in dieser Runde aber wohl ohnehin alle einig wären: Das Bekenntnis, die Wichtigkeit, die große Bedeutung, die Unverzichtbarkeit unseres europäischen Miteinanders. Im Anschluss würden wir uns gegenseitig freundlich anschauen und einander zustimmend zunicken, im Bewusstsein, dass wir die Guten sind, stünde dem Gang zu den Schnittchen nicht mehr viel im Wege.

Sie entnehmen meinen Worten eine mittelschwere Ermüdung gegenüber drohenden Worthülsen und Allgemeinplätzen, die per se nicht falsch sind, aber sich eben oft auch jeglicher Konkretion entziehen. Das ist sprachlich diplomatisch und ich selbst bin leider auch nicht ganz frei davon, aber die überwiegende Mehrheit aller Europäer sind keine Diplomaten. Sie sehnen sich nach Klartext, ehrlichen Ansagen – auch wenn sie mal unerfreulich sind – und einer Sprache, die den gefühlten Gegensatz „Die da oben im Konferenzraum – wir hier unten in der Realität“ überwindet.

Die Überschrift für heute habe ich so genannt bekommen, mir nicht selbst ausgedacht: „Europa am Scheideweg, Fragezeichen“. Aber sie ist ja richtig, denn entscheiden muss sich Europa jetzt mal. Wie es sich verstehen will, wie es handeln möchte, wie es nach innen und außen erfolgreich kommuniziert, wer wir sind und was wir wollen. Kriege und Krisen zwingen dazu, mehr und grundsätzlicher zu entscheiden als über Normgrößen von Salatgurken. Scheideweg heißt: Es gäbe mehrere Wege. Für welchen also soll sich Europa entscheiden?

Vor einer Antwort zunächst eine Beobachtung dazu, die mir in diesen Tagen noch einmal recht deutlich geworden ist.

Zum einen gibt es eine Selbstwahrnehmung der politischen Akteure und auch den europäischen Medien, die deren Arbeit bewerten. Man ist sich relativ einig, dass das letzte Jahr recht erfolgreich war, es wurde viel geschafft, man könne sehr zufrieden sein. Für sich genommen ist das eine gute Nachricht und per se zu würdigen. So selbstverständlich ist das ja gar nicht angesichts der noch jungen EU-Geschichte, wenn sich die Abgeordneten aller Staaten verstehen, konstruktiv miteinander arbeiten, an sich selbst bereits erleben, wie nationale Grenzen immer weniger wichtig sind.

Allerdings erleben große Teile der Bevölkerung das offenbar anders, mal ganz unabhängig davon, ob es sachlich stimmt, was sie fühlen. Bisher prägende Grundannahmen und daraus resultierende Sicherheiten sind brüchig geworden in den letzten Jahren. Z.B., dass es keinen Krieg mehr geben würde in Europa, dass es ein beständiges Wachstum und Wohlstand für alle gibt.

Dazu die zunehmende Erkenntnis, dass der Rest der Welt dem Musterknaben Europa gar nicht unbedingt folgen will in seinen Vorstellungen über Demokratie, Menschenrechte, Regierungssysteme.

Ich skizziere kurz drei deutsche Beispiel-Europäer, die sich derzeit nicht rundum glücklich fühlen mit ihrem Dasein.

Erstens, das liegt uns gerade am nächsten: Der Landwirt. Über die Trecker-Demos, auch manche Auswüchse, mag man denken, was man will – sie sind Ausdruck einer Gefühlslage, die sich seit längerem aufgestaut hat. Es geht nicht wirklich um die Streichung der Dieselsubvention, es geht um das Gefühl mangelnder Wertschätzung, Gängelung, Missachtung harter Arbeit und unternehmerischen Risikos, ungleicher Behandlung. Dass die Agrarpolitik uneindeutig erscheint, langfristige Perspektiven fehlen.

Zweitens: Der Handwerksmeister, der sich mit überbordender Bürokratie herumschlägt. Mit Sicherheitsauflagen, Arbeitsschutzregeln, aufwändigen Ausschreibungsverfahren und dann – werden ihm die Aufträge weggeschnappt von europäischen Mitbewerbern, denen es mit all diesen Dingen in ihren Heimatsländern offenbar leichter gemacht wird und die viel günstiger anbieten können. Da kommt die Begeisterung für Europa nicht so recht zustande.

Drittens: Die Lehrerin, die in ihrer Grundschulklasse nur noch vier in Deutschland geborene Kinder hat, dazu 22 andere Schülerinnen und Schüler aus 12 verschiedenen Ländern. Sie müht sich redlich, Unterricht für alle sinnhaft und erfolgreich zu gestalten, scheitert aber notgedrungen daran. Zu verschieden die Sprachstände, die Unterstützung aus den Elternhäusern, die Voraussetzungen für eine gelingende Integration. Eine grün angehauchte Zahnarztsgattin aus Eppendorf, deren edle Motivation ich gar nicht bezweifeln möchte, hat es einfacher mit der Begeisterung für eine bunte und vielfältige multikulturelle Gesellschaft als die Lehrerin in Wilhelmsburg, die sich fragt, ob man die Zuwanderung nach Europa nicht doch ein bisschen anders gestalten müsste, damit die Realität eine Chance bekommt, den hehren Zielen folgen zu können.

Meine Damen und Herren, nur diese wenigen Beispiele machen schon deutlich, dass es zahlreiche Schwierigkeiten mit sich bringt, den europäischen Gedanken so umzusetzen, dass die Mehrzahl aller Bürgerinnen und Bürger Europa als Gewinn und nicht als Bedrohung wahrnehmen kann.

Für Europa gibt es die Herausforderung, nach außen Einigkeit, Stärke, Konkurrenzfähigkeit darzustellen, aber eben vor allem nach innen seinen Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl zu geben, dass sie gerne und im besten Fall mit Leidenschaft Europäerinnen und Europäer sind. Und ich glaube, dass diese zweite Aufgabe eine immense Bedeutung haben muss, wenn Europa nicht nur eine europäische Wohn- oder Wirtschaftsgemeinschaft sein soll, sondern als europäische Wertegemeinschaft erfahrbar werden kann.

Also, was wäre zu tun? Natürlich viel mehr, als ich jetzt auf die Schnelle nur kurz anreißen kann, aber ich versuche, grob zu skizzieren, was mir geraten scheint.

Erstens, und das habe ich eben bereits gesagt: Europa muss eine Wertegemeinschaft sein. Die Staaten Europas haben eine Nachkriegsgeschichte miteinander, in der man lange darum gerungen hat. Aber jetzt gibt es sie: Meinungs- und Religionsfreiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter, Gewaltenteilung, demokratische Prozesse, humanitäre und soziale Standards, den Willen zur Zusammenarbeit über nationale Grenzen hinweg. Und jeder, der dazugehören will zu dieser Gemeinschaft, muss sich nicht nur dazu völlig zweifelsfrei bekennen, sondern auch nach Kräften dazu beitragen, dass all das gesichert bleibt und noch viel besser wird.

Zweitens: Damit das gelingen kann, braucht es auch Reduktion auf wirklich Wesentliches und Wichtiges. Als Kirchenmann weiß ich, wie unglaublich schwierig es ist, Gemeinsamkeiten in größeren Organisationen herzustellen. Und wenn man all und jedes zu reglementieren versucht, sämtliche Lebensvollzüge in einheitliche Schemata und Richtlinien einordnen und verordnen möchte, ist das Scheitern vorprogrammiert. Es ist nicht wirklich schlimm, wenn regionale Unterschiede bestehen bleiben, solange es im Großen und Ganzen Klarheit und Einigkeit gibt. Gleichmacherei führt oft zu hartnäckigen Widerständen und letztlich zu Minimalkonsensen, in denen keinerlei Kraft mehr steckt. Hier sollte Europa gelassener werden und sich nicht verkämpfen in Kleinigkeiten.

Drittens – und das bin ich Ihnen jetzt als Theologe schuldig: Die Rolle der Religion. Europäische Werte sind, das ist nun mal so, ganz wesentlich aus christlichen Vorstellungen entstanden. Nicht alle, aber doch sehr erkennbar und deshalb haben wir Christen es auch vergleichsweise leicht mit unserem Verhältnis zum Staat, hier in Deutschland, aber auch im europäischen Zusammenhang. Wir begreifen staatliche Ordnungen auch nicht als feindliches Gegenüber, sondern als mitzugestaltenden Lebensraum, der nie deckungsgleich sein muss mit religiösen Werten, aber anzuerkennen ist in seinem Primat.

Damit tun sich Muslime z.B. schwerer und die daraus resultierenden Konflikte kann man nicht ignorieren. Sie beruhen auf einer grundsätzlich anderen Zuordnung von Religion und Staatlichkeit, die dazu führen kann, dass staatliche Autorität nicht anerkannt wird und Parallelgesellschaften nicht nur drohen, sondern de facto ja längst vorhanden sind. Hier muss Europa ganz deutlich sagen: Religionsfreiheit findet seine Grenze an den Ordnungen des vereinbarten Miteinanders in freiheitlich organisierten Gesellschaften.

Ganz persönlich nervt mich ein falscher Toleranzbegriff in dieser Frage. Andere religiöse Vorstellungen vom Miteinander müssen in Europa nicht zwangsläufig verboten sein, aber Glaubensfreiheit bedeutet keineswegs, dass wir alles gleichermaßen gut finden müssen, was manch einer denkt und glaubt. Inklusion und Integration heißt doch, dass wir Menschen nicht verdammen oder ausgrenzen mit ihren Vorstellungen, hingegen aber keinesfalls, dass wir eine Gesetzgebung nach Scharia-Muster oder z.B. Missachtungen von Grundsätzen der Geschlechtergerechtigkeit akzeptieren oder gar so berücksichtigen, dass sie einen Raum bekommen, der den freiheitlichen Grundsätzen Europas widerspricht. An dieser Stelle sei mir in aller Verbundenheit ein bisschen Genossen-Kritik erlaubt: Mir erscheint die SPD in diesem Punkt leicht ideologisch verbrämt und sollte sich noch einmal überlegen, ob sie die entsprechenden Passagen im CDU-Programm nicht doch ein wenig voreilig verdammt hat.

Viertens: Die Sprache. Ich bin sehr davon überzeugt, dass die Zeit für Worthülsen und schwabbelige, manchmal auch anbiedernde Sprache zu Ende gehen muss. Das müssen wir bei Kirchens lernen, aber bitte auch in der Politik. Ich bekomme mittlerweile Anfälle zwischen Verärgerung und Widerstandserregung, wenn ich aneinander gereihte Begriffe wie „auf Augenhöhe, alle mitnehmen oder Achtsamkeit“ höre. Die allseits gegenwärtigen Bemühungen um gendergerechte Sprache gehören leider auch in diese Kategorie – darüber kann man sich am Buffet gerne nachher streiten mit mir, ich erwähne es trotzdem. Von bewusst geplantem bösen Willen gehe ich dabei gar nicht aus, aber gut gedacht ist eben nicht immer gut gemacht. Im Ergebnis schließt vieles in dieser Hinsicht große Bevölkerungsgruppen nicht ein, sondern aus. An die SPD noch mal eben die Frage: „Soziale Gerechtigkeit“ – was ist das eigentlich? Chancengleichheit oder Umverteilung, sanftes Subventionieren oder Revolution – ich weiß es nicht so genau und bitte um Aufklärung. Und schließe diesen Punkt mit dem schönen Satz unserer norddeutschen Sabbel-Fachkraft Ina Müller: „Reden, was wahr ist, trinken, was klar ist!“ Das Zitat geht noch weiter, gleitet im letzten Teil aber ab ins leicht Obszöne, das erspare ich Ihnen augenzwinkernd …

Fünftens und letztens: Ganz kurz und knapp – das Prinzip Einmütigkeit bei jeder anstehenden Entscheidung geht de facto nicht mehr, Europa braucht Mut zur Mehrheit. Die internen Kuhhandel zwischen europäischen Staaten, die in der Regel mit viel Steuergeld „gelöst“ werden, oder sich erpressen lassen z.B. von Ungarn, geht gar nicht. Der geneigte Euro-Bürger reagiert darauf mit Be- und Entfremdung, zu Recht. Es widerspricht jedem „Geist“ von Europa.

Meine Damen und Herren, „Europa am Scheideweg?“ – das ist natürlich eine Frage, für deren Beantwortung ich irgendwann doch mal 300 Seiten Buchumfang bräuchte, aber heute lautet mein vorläufiges Fazit:

Europa braucht klare, sichtbare und erfahrbare, für die Bürgerinnen und Bürger spürbare Grundwerte nach außen und nach innen.

Europa braucht eine stärker kommunizierte Vorstellung vom Ziel des Ganzen.

Und Europa braucht Bürgerinnen und Bürger, die mutig und überzeugt verteidigen, was wir an großartigen Dingen errungen haben.

In der Einladung zum heutigen Tage steht:

„Das Projekt Europa ist ein Friedensprojekt und etwas Einzigartiges. Wir leben geeint in Vielfalt – da würde ich gerne ergänzen: aber nicht in Beliebigkeit, das ist die Stärke der Europäischen Union und das macht es wert, für Europa zu kämpfen. Dafür müssen wir aber etwas tun.“

Ja, in der Tat, dafür müssen wir etwas tun. Etwas weiter unten heißt es im Text:
„Der Kern Europas muss in den Vordergrund gerückt werden: Europa ist ein Projekt für die Bürgerinnen und Bürger.“

Ich stimme zu, möchte an dieser Stelle aber hinzufügen: Die Bürgerinnen und Bürger müssen Europa dafür aber fühlen können, es im Alltag nicht als Last, sondern als echte Bereicherung wahrnehmen, und es im besten Falle sogar ein bisschen liebhaben.
Das ist so, wie mit anderen Dingen auch, die schrecklich oder ganz großartig sein können. Jede Beziehung zueinander, von Freundschaften bis hin zu Ehen und Partnerschaften, lebt im Kern von Zuneigung und Liebe. Ansonsten ist sie eine WG, eine Wohn- oder Wirtschaftsgemeinschaft. Europa muss sich entscheiden, ob es das sein will.
Meine häusliche Partnerschaft soll keine WG sein, das habe ich mir sehr klar gemacht. Und mein Europa soll mich auch liebhaben – als Bürger, der es dann auch gerne liebhat. Nicht ganz so doll wie die kluge und schöne Frau im Hause, aber immerhin doch mit ein bisschen Leidenschaft …"